Aussterben des Handwerks in Pakistan

Imran Mehr

Der Stoff, der aus Träumen gemacht ist

Fareed webt Falasi, Decken aus Kamelfell. Wenn er dafür einen Rat braucht, sucht er ihn bei seinen Vorfahren, die ihm nachts im Traum begegnen. Doch seine Provinz Cholistan erlebt ein böses Erwachen: Das Handwerk kämpft dort um sein Überleben.

Fareed spinnt. Nicht nur heute, sondern eigentlich jeden Tag. Denn von Montag bis Sonntag sitzt er an seinem Webstuhl und spinnt einen Faden nach dem anderen. Er webt daraus einen Falasi, eine Wolldecke aus Kamelfell. In der pakistanischen Provinz Cholistan kann es kalt werden: Manchmal zeigt das Thermometer bis zu minus drei Grad Celsius an. Doch bis ein Falasi fertig produziert ist, vergehen oft zwei Monate.

Fareed ist 55 Jahre alt, das Leben in der Wüste hat ihn geprägt. Denn er sieht durch seine von der Sonne gegerbten Haut älter aus, als er ist. Sein weißer Turban bringt seine dunkle Gesichtsfarbe noch mehr zur Geltung. Er redet nicht viel. Doch in seinen tiefen durchdringenden Augen schimmert Hoffnung. Sie spiegeln den Stolz auf sein Handwerk, seine Frau, seine drei Söhne und seine Tochter wider.

Für Fareed ist Falasi Familientradition: „Schon meine Großeltern wussten, wie man aus Kamelfell eine warme Decke herstellt“, erzählt Fareed. Einst galt in Cholistan ein Falasi auch als Symbol des Stolzes. Außerdem – so sagt Fareed – ist ein Falasi eine Art Verbindung zwischen der heutigen und der spirituellen Welt. Vor Beginn eines jeden Projekts bittet Fareed seine verstorbenen Vorfahren um Rat. „Meine Ahnen erscheinen in meinen Träumen und zeigen mir dort die Entwürfe für den nächsten Falasi“, so Fareed.

Doch seit Monaten kann Fareed nicht mehr schlafen. Er verdient nicht genug Geld für sich und seine Familie. Und so geht es vielen anderen Handarbeitern in Cholistan auch.

Reich an Kultur, arm an Wirtschaft

Cholistan ist eine der größten Wüsten in Pakistan im südlichen Teil der Provinz Punjab gelegen. Etwa 4000 v. Chr. war die Region die Heimat einer der ältesten Zivilisationen der Welt, „Hakra“ genannt. Cholistan wurde über Jahrhunderte hinweg berühmt für sein Handwerk. Die Textilindustrie der Provinz produzierte sogar königliche Gewänder. Bis heute werden die Stoffe am Webstuhl gewebt. Typisch sind zum Beispiel Schals, Bettwäsche und bestickte Kamelhaut. Die Produkte haben Potenzial für den Export. Doch Cholistan ist eines der am wenigsten entwickelten Regionen von Pakistan – trotz seines Handwerks.

Laut eines Berichts der pakistanischen Staatsbank ist der Wert der jährlichen Exporte des Kunsthandwerks von 883.000 US-Dollar in den Jahren 2009 bis 2010 auf 261.000 US-Dollar im Jahr 2013 gesunken. Das liegt vor allem an der Abwesenheit staatlicher Unterstützung. Handarbeiter werden von der Gesellschaft oft an den Rand gedrängt. Sie arbeiten meist schwarz und sind somit für Statistiken unsichtbar. Auch Fareed ist offiziell nicht registriert.

Auch Mikrokredite werden von der Regierung immer seltener verteilt. Laut eines Berichts der pakistanischen Staatsbank sind die Förderungen in den Jahren 2011 bis 2012 um 15 Prozent gesunken. Darüber hinaus ist die Bereitstellung von Darlehen auf städtische Gebiete konzentriert.

Schlecht ausgebaute Infrastruktur

Außerdem fehlen ein Netz von Landstraßen und Transportmöglichkeiten. Für Handwerker vom Land ist es deshalb schwer, städtische Märkte zu erschließen. Daher sind sie gezwungen, ihre Waren zu sehr niedrigen Preisen in den lokalen Märkten zu verkaufen. Auch Fareed kennt das Problem. Für einen Falasi kann er umgerechnet gerade einmal mit zehn Euro rechnen. Satt wird von dem Umsatz seine Familie nicht.

Auch für Asia Bibi, Mutter von fünf Kindern, sieht die Situation nicht besser aus. Sie verdient durchschnittlich etwa 20 US-Dollar im Monat, manchmal aber auch weniger: „Oft vergehen Monate ohne Arbeit. Dann bekomme ich ganz viele Aufträge auf einmal herein und arbeite rund um die Uhr, um rechtzeitig fertig zu werden. Doch das Geld ist so wenig, dass nicht genug für mich und meine Familie übrig bleibt.“ Bibi will deshalb nicht mehr in dem Beruf arbeiten, aber sie sagt, sie hätte keine Alternative.

Fehlende Unterstützung, eine schlechte Infrastruktur und niedrige wirtschaftliche Erträge – das alles führt zu einem starken Rückgang des Handwerks. Familien hören damit auf, ihren Kindern ihre Fertigkeiten beizubringen – sie sehen keine Zukunft mehr darin. „Die Region Cholistan braucht dringend Hilfe von der Regierung. Die Landwirtschaft ist nicht besonders ausgeprägt und das Handwerk ist eine der wenigen Alternativen für die Bewohner. Außerdem ist das Volk seit vielen Generationen mit dem Textilhandwerk verbunden. Das ist ihr kulturelles Erbe. Doch aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation entscheiden sich ihre Kinder, einen anderen Weg zu gehen und ziehen vermehrt in Städte“, berichtet Irfan Mehmood, Projekleiter der Entwicklungsbehörde in Cholistan.

Auch Fareed denkt nachts – wenn er mal wieder nicht schlafen kann, darüber nach, in eine Stadt zu ziehen, um seine Familie ernähren zu können. Doch verlässt er Cholistan, geht mit ihm auch ein Teil seiner Kultur verloren.